F.K.

Franz Kafka saß hinter mir in Physik. Ein dünner Kerl mit abstehenden Ohren und viel schwarzem Haar. Klug war er und ab und an hatten seine Sätze etwas Literarisches. Das genügte mir um ihn als Intellektuellen einzutüten. Das leicht Finstere in seinem Blick hatte etwas Morbides, das gruselte mich und gefiel mir gleichzeitig. Gelacht hat er nicht, glaube ich. Zumindest nicht in meinem Beisein. Wir lasen die Verwandlung im Unterricht. Und so stelle ich mir vor, dass er einen Apfel im Rücken hatte, der nach gezieltem Wurf dort stecken geblieben war. So ein Schriftsteller isst ja kaum, das hält ihn vom Denken und Schreiben ab. Deshalb war er so mager. Und er hat auch sonst keine Interessen, nur eben die höhere Kunst und die Ewigkeit, und die er dadurch eingeht. Ich hatte also ein auserwähltes Wesen vor mir, die Inkarnation des reinen Geistes. Kurzum, ich verehrte ihn.
Das Bild bekam Risse, als er begann, im Unterricht meine Locken um seine Finger zu wickeln. Das ging gut, weil im Physiksaal die Bänke sehr eng und ansteigend angeordnet waren. Und als er sich dann weit nach vorne beugte, um mir ganz leise Marilyn ins Ohr zu flüstern, knirschte es laut, es tat einen Knall und die Figur Kafka lag in Scherben auf dem Boden. Nein, etwas, das ich anbetete, hatte keine solchen niederen Interessen zu haben. Der Held war geplatzt. Mein Interesse war sofort und komplett erloschen.
Später fielen mir dann die Briefe des echten Kafka an Felice Bauer in die Hände. Mist, dachte ich, er hatte ja auch nicht nur die Literatur im Kopf. Also sind Schriftsteller eben einfach Männer, basta.
Den falschen Kafka habe ich übrigens kürzlich wieder gesehen. Passend zur Erscheinung ist er tatsächlich Pfarrer geworden, aber nicht im beerdigenden Gewerbe, sondern im lehrenden. Und er klagte, wie schlimm es ihm doch ginge, wie schrecklich alles sei, Beruf und Leben.
Hätte ich ihm sagen sollen, dass er mal für kurze Zeit mein Held war?