Übersprungen

Die Nichte habe ich abgeholt vom Reiten. Ganz ernsthaft saß sie auf dem Pferd mit der stubbeligen Mähne und hatte vorläufig keine Zeit für die Tante und das Mitgenommen werden.
Da ist es mir dann wieder eingefallen, dass ich Pferde ziemlich lieb habe. Sie kommen zu mir, lassen sich tätscheln und streicheln, ich mag ihre Kraft und ihre Schönheit.
Doch ich saß nur ein einziges Mal auf einem Gaul, und das zusammen mit Schwester und einem gelockten Baby aus der Verwandtschaft.
Das Kind weint herzzerreißend, nur wir beiden gucken ganz stolz.
Das mussten wir auch, denn der Sitz im Sattel war hart erkämpft. Und es bliebt für den Rest unseren bisherigen Lebens das einzige Mal. Denn unsere Generation sollte nämlich übersprungen werden.
Wir kommen aus einer Pferdefamilie. Der Großvater und dessen Vater und dessen Vater hatten Pferde, für das Feld, fürs Holzrücken und einfach so, zum Reiten.
Und so konnten es auch alle in der Familie. Pferde waren einfach da.
Meine Mutter traf meinen Vater und fortan lebte man in der Stadt. Unsere Kindheit war voller mütterlicher Pferdegeschichten, doch wir schafften es nicht, weder durch Quengeln noch durch Theater, auf ein Pferd zu kommen. Zu gefährlich, viel zu gefährlich.

Sonntägliche Spaziergänge führten immer zu Pferdeweiden eines nahe liegenden Gestütes, die Mutter hatte Brot oder Äpfel dabei und wir durften füttern und streicheln. „Immer auf die flache Hand legen, keinen Finger krümmen, sonst ist er weg.“
In diesem Stil waren die mütterlichen Geschichten, alle mit dramatischer Wendung und üblem Ende. Wie das Pferd dem Knecht in die Brust gebissen hat. Wie das Pferd mit dem Heuwagen durchgegangen ist, direkt mit den Rädern über des Großvaters Arm. Wie das Pferd denjenigen fast totgetreten hat, der ihn viele Jahre vorher gequält hatte. Und wie der Großvater mit den Pferden in den Krieg zog, sie irgendwann essen musste und in den flandrischen Gräben fast zu Tode gekommen ist.

Trotz alledem war unser Sehnsuchtsort dieses Gestüt außerhalb der Stadt. Pferde mit langen Mähnen trabten über taubetropfte Weiden. Die Tochter des Besitzers, das Pferdemädchen schlechthin: lange glatte Haare, braun gebrannt und wunderschön lächelnd. Gloria.
In unseren Augen war dem ganzen Ensemble nichts mehr hinzuzufügen. Es war perfekt.
Doch sie nahm ein jähes Ende, wie eigentlich alle Pferdegeschichten meiner Mutter.
Der Bruder des schönen Mädchens erschoss die gesamte Familie inclusive der Jagdhunde und sich selbst. Über die Gründe munkelte man, es sollte mit einer unpassenden Liebe und einem unerwünschten Kinde zu tun haben.
Ja, und so war das endgültige Aus über den Reitunterricht gesprochen, das mit den Pferden führt zu nichts Gutem, was ja bewiesen ist.
Seltsam schon, dass nun die Großmutter der Enkelin den Reitunterricht bezahlt.
Sie erzählt ihr voller Freude, wie gerne sie selbst geritten sei.
Die Gruselgeschichten lässt sie weg, oder hat sie vergessen.

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