Achtzig Jahre

Die Synagoge lag direkt neben dem Gymnasium. In dieser einen Nacht war sie geplündert worden und alles, die Thora und die Gedenktafel, flogen auf die Strasse. Es gelang ihnen nicht, das Gebäude anzuzünden. Mein Vater erzählte, dass Anwohner die angereisten Schlägertrupps davon abgehalten konnten. So gibt es das Gebäude heute noch. Die jüdischen Familien waren um diese Zeit einfach verschwunden. Zwei Klassenkameraden meines Vaters kamen eines Morgens nicht mehr zur Schule. Er fragte dann den Lehrer, wo sie denn seien. Weggezogen, sagte der Englischlehrer. Das könne nicht sein, sagte mein Vater, die hätten sich ja dann von mir verabschiedet. Ab da wusste er, dass etwas nicht stimmte, erzählte er später. Und ab dem Moment schaute man ganz genau auf ihn. Sein Vater war früh gestorben, die Mutter hatte 8 Kinder und kam kaum über die Runden. Sie fuhr von Dorf zu Dorf um die Rechnungen für die Denkmäler bei den Bürgermeistern einzutreiben, die der Vater noch in seiner Bildhauerwerkstatt hergestellt hatte. Der kleinste Junge fand dann Hilfe bei den Patern des Klosters um die Ecke. Sie halfen ihm bei den Schulaufgaben und er war Ministrant bei den Messen der Mönche. Und sie machten ihn stark. Es kam für ihn dann die Zwangsmitgliedschaft in der Hitlerjugend. Die Treffen waren exakt auf die Gottesdienstzeiten ausgerichtet. So trug er unter dem Ministrantengewand die HJ- Uniform, um sich nach dem Gottesdienst zu deren Versammlung zu schleichen. Er wurde nach einiger Zeit erwischt, und er kam vor das Femegericht der HJ. Anklagepunkt: Entehrung der HJ- Uniform. Der Leiter war sein Englischlehrer. Er wurde unehrenhaft aus der HJ entlassen und flog dann auch noch von der Schule. Meine Tante konnte das mit viel Charme abbiegen. Es nutze aber nichts, die Lehrer waren alle auf Linie, und so dauerte es kein halbes Jahr und ein paar erfundene Sachen, und er musste das Gymnasium endgültig verlassen. Die Familie war eh unter Beobachtung. Die Mutter war nicht im Rathaus erschienen zur Übergabe des Mutterkreuzes. So brachte eine Delegation mit braunen Uniformen das goldene Abzeichen zu ihr nach Hause. Sie warf es in die Toilette, sobald die Braunen weg waren. In diesem Haus wird es kein Hakenkreuz geben, sagte sie. Und so blieb es. Man fand für meinen Vater mit der Künstlerseele eine Lehrstelle als Eisenwarenkaufmann. Wie gefährlich die Lage war, war allen klar. Die Schwester hatte einen der Busse gesehen, die in der nahe gelegenen Heilanstalt die Behinderten abholten für Ausflüge. Die Busse hatten alle keine Fenster. Was aus den jüdischen Jungen aus seiner Klasse wurde, hat er nie erfahren. Leider habe ich mir die Namen nicht gemerkt. Heute könnte ich nachschauen. Achtzig Jahre ist das heute her, auf den Tag genau, an der die Synagogen zerstört wurden.

So ging es weiter

4 Gedanken zu “Achtzig Jahre

    • Danke. Ich denke, dass viele daraus gelernt haben. Leider nicht alle.
      Herr Gauland ist selbst ein Flüchtling, Frau Weidel lebt ganz anders, als sie es propagiert.

  1. Meine Patentante, Jahrgang 1934, sagte neulich: sie waren halt nie ganz weg. Da hat sie recht. Sie hat sich jetzt ein paar Sätze zurecht gelegt, die sie jedem sagt, der findet „das wird man doch noch sagen dürfen“. Danke für das Aufschreiben.

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