Hundert Jahre

Was mein einer Großvater im ersten Weltkrieg gemacht hatte, weiß ich nicht. Der andere, Vater meine Mutter, war in den Gräben von Ypern, Jahr um Jahr. Er hat den Frontverlauf erlebt, wie er sich verschob um ein paar Meter in ein paar Monaten. Er erzählte von der Angst vor dem Gas. Von den Zeiten, als man einfach keine Lust mehr hatte, auf Engländer zu schießen. Und die  hatten auch keine mehr zurückzuschießen. Sie sprangen mit großen und weiten Sprüngen von Graben zu Graben, das hatte ihm imponiert. Er hatte Pferde zuhause und so betreute er hier auch welche. Bis zum bitteren Ende, bis sie alle so hungrig waren, dass sie sie aufaßen. Süß schmeckten sie, sagte er, sehr süß. Irgendwie gelangte er ins Elsaß, auf den Hartmannweiler Kopf. Ein Geschoss zerfetzte seinen Arm. Man brachte ihn ins Lazarett. Da lagen die anderen, Reihe um Reihe, vor einem großen Zelt. Diese gellenden mörderischen Schreie, die aus dieser Richtung kamen, konnte er Zeit seines Lebens nicht vergessen. Langsam begriff er, dass dort amputiert wurde. Man wollte ihm den Arm abnehmen. Er wehrte sich, brüllte, tobte, man solle ihm den Arm lassen. Ihn nur zusammennähen, das würde schon zusammenwachsen. Er wolle nicht am jüngsten Tag durchs Elsaß wandern und seinen Arm suchen. Das überzeugte den Chirurgen und er flickte ihn zusammen. Und genau so kam es auch. Der Arm blieb steif, aber er war da. 

Die Lebensfreude blieb ihm erhalten, er tanzte auf jedem Ball mit seinen Töchtern Walzer. Er hatte sechs davon. Und fasste nie wieder eine Waffe an. Als er starb, standen seine Kameraden von Kriegsversehrtenverband mit großen Fahnen am seinem Grab wähend ein Trompeter blies.

Hundert Jahre ist das her, dass dieser Krieg zu Ende ist.

8 Gedanken zu “Hundert Jahre

  1. Eindrücklich und für unsereine kaum nachzuvollziehen. Zu brutal. Es war Realität. Filme darüber will ich mir nicht anschauen. Das, was mir aus deinem Text nahekam, reicht für viele Stunden.
    Gruß von Sonja
    P.S.: Die Eigenwilligkeit und Hartnäckigkeit, mit der der verwundete Arm verteidigt wurde, imponiert mir sehr!

    • Im Grunde können wir es nicht nachvollziehen. Erahnen konnte ich es, was er mitgemacht hatte, als ich bei einem Unfall einen Trümmerbruch am Arm hatte.
      Ja, bewunderswert. Er war ein stiller, aber sehr hartnäckiger Mensch, das hat ihm da geholfen. Auch bei meiner Oma.

  2. Mein Großvater, der nach Ende des 1. Weltkriegs geboren wurde, und dann als Teenager im 2. Weltkrieg glücklicherweise nichts allzu Schlimmes erleben/tun musste, sagte immer, dass er die Schrecken des 1. WKs als Kind zwar mitbekommen hatte (die Kriegsversehrten waren ja allgegenwärtig), aber das Grauen dann wegen des Horrors des 2. WKs dann verdrängt oder zugeschüttet wurde. Immer mal wieder kamen aber Geschichten hoch, die er von seinem Vater oder Großvater gehört hatte. Mir taten die Gefallenen und die Überlebenden immer etwas leid, weil sie hinter den Opfern des 2. WK immer ein bisschen „vernachlässigt“ wurden. Danke für die Geschichte Ihres Großvaters.

    • Solche Geschichten trägt man ja lange mit sich rum. Der Stellungskrieg muss wirklich grausam gewesen sein. Und ein Land, das beide Kriege angefangen hat, muss sich schon fragen warum das so war. Unsere Vorfahren haben sich zwei Mal aufhetzen und in den Krieg treiben lassen. Wir müssen sehr aufpassen, dass es kein drittes Mal gibt. Und dafür gibt es Europa.

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