WmDedgT 07/20

Der Tag fängt um zwei Uhr an. Sie hatte in der Knistertüte endlich den Druckknopf der Klingel gefunden. Sie löst einen Westminstererschlag direkt neben meinen Ohr aus. Das muss sie auch, sonst wache ich nicht auf. Also gibt es zusätzliche Schmerztabletten. Um fünf dann einmal Hochhieven mit Drehung auf den Toilettenstuhl. Wie schwer können 45 Kilo Mensch sein! Um acht steht die Diakonie auf der Matte, Waschen und Anziehen mit Verband neu wickeln. Sie wird platziert auf dem Königinnenthron direkt neben dem Bett.
Dann gibt es Frühstück. Etwas Kritik wird an der Kümmelseele mit Marmelade geübt, dann wird aber tapfer gegessen. Ich verpasse ihr ein Papstbuch und eine Decke. Sie macht Vorschläge für das Mittagessen. Es wird schwierig, da Kühlschrank und Gefrierschrank nach fast drei Monaten Abesenheit fast nichts bieten. Als ich später nachschaue, liegt der Papst auf dem Boden und sie schnarcht ganz unköniglich vor sich hin.
Es gibt geschmorte Beinscheibe, Nudeln und Erbsen aus der Dose versetzt mit Möhrchen aus der Gefriere.
Dazu wir sie nun über zwei halbe Stockwerke nach unten verfrachtet. Die Beine knicken weg, eine Höllentour. Aber nun, das Essen wird gegessen. Es schmeckt so mittel. Alle Gewürze hatte ich im Februar entsorgt wegen Ablaufdatum, und so gibt es nur Salz und Pfeffer mit Rotwein und Päckchensahne in der Sauce.
Dann bette ich sie auf die Couch, polstere die wehen Stellen mit Kissen aus. Sie schläft sofort ein. Ich würde gerne auch tief schlafen, habe aber immer ein Ohr offen, ob alles auch gut ist. Dann gibt es Butterkekse und Tee auf der Terrasse. Aus den Fugen spießt das, was als Vogelfutter im Winter gedacht war. Sie fischt sich noch die Schüssel Müsli und Obst vom Tisch, den sie zum Frühstück nicht gepackt hatte. Es ist schwer für sie, sie kann nur einen Arm gebrauchen, ein Teil landet auf der schicken Hose.
Bitte ausputzen, sagt sie.
Dann kommt schon die Diakonie und gemeinsam wird dieses Wesen, das nicht mehr gehen und stehen kann in den oberen Stock transportiert, ausgezogen und gebettet. Der Pfleger ist von der Hellseherfraktion, er weiß genau wie alles ausgeht. Mal sehn, er kennt die Zähigkeit von Königinnen nicht.
Das Abendessen gibt es halb im Liegen, sie ist müde, kann kaum noch. Doch kein Ausflug zu Thron heute. Ich esse dann noch ihre Reste auf und bestelle einen Krankentransport für morgen zum Arzt. Wir bekommen sie unmöglich in meine Sportskarre.
Jetzt sind die Unterlagen dran. Krankenkasse, Rechnungen, Anträge, Rund-um-die-Uhr-Pflege. Die Sprache dieser Formulare löst bei mir mittlerweile Brechreiz aus. Ich wecke sie nochmals: Schmerztabletten für die Nacht. Ich sortiere dann den Rest des Krankenhauszeugs und wasche noch eine Ladung Wäsche.
Dann schreibe ich den Tagesbericht für die Brüllensche Edition: WmDedgT. Was machst Du eigentlich den ganzen Tag? Das möchte Frau Brüllen ein Mal im Monat, nämlich am 5., ganz genau wissen.

12 Gedanken zu “WmDedgT 07/20

  1. Ich wünschte es gäbe einen Weg, rückwirkend in diesen Tag eine Prise Fröhlichkeit und Zuversicht zu schmuggeln. Es ist wie es ist, ich weiß, aber ich hoffe so sehr, dass das nicht alles ist.

    • Ich weiß es einfach nicht, wohin es führt. Meist bin ich hofflungslos opimistisch. Hier aber…
      Ich mag einfach nicht aufgeben, und das kostet Kraft, das kostet Nerven. Ich steh so neben mir.

  2. Erinnert mich sofort an dreizehn Jahre Angehörigenpflege. Ich wünsche dir Ruheinseln und weitere Hilfen, auch über den Sozialdienst hinaus. Eine gesunde Portion Egoismus hilft auch zum Durchhalten, erfuhr ich für mich.

  3. Oje. Da fehlen Worte. Viel Kraft wünsche ich. Und dass Sie das hoffentlich nicht lange alleine stemmen müssen.

  4. Ich schicke ein Herz und eine Krone (geht nicht an der Tastatur) und schließe mich den Wünschen nach Ruheinseln an. Du hast meine aufrichtige Bewunderung! Ich weiß, wie es zehrt. Pass (auch) auf dich auf!

    • Danke sehr, für Herz und für Krone. Ja, es zehrt. Am liebsten würde ich mich ins Bett legen und übermorgen aufwachen.
      Und ich weiß nicht, ob ihr die Situation wirklich klar ist.

  5. Meiner Erfahrung nach wollen sie es zunächst nicht wahrhaben. Sie hoffen sehr, dass es doch wieder besser wird, so wie vorher. Das macht Gespräche und die Suche nach praktikablen und guten Lösungen nicht einfacher. Hinzu kommt oft auch Angst vor dem Heim, verständlicherweise. Häufig noch kombiniert mit der Sorge, dass die eigene Rente und Vermögen nicht reichen könnte und die Kinder finanziell herangezogen werden.

    Es gibt bundesweit leider nur sehr wenige Gruppen für berufstätige pflegende Angehörige. Vielleicht hilft aber ein Blick in die entsprechenden Ratgeberbücher. Als Lehrerin sind Sie finanziell zum Glück nicht auf das Pflegegeld angewiesen, das Angehörige für die häusliche Pflege bekommen – ist eh nur ein Klicker und ein Knopf -, insofern wäre es angesichts Ihrer Berufstätigkeit bestimmt sinnvoll, so viel wie möglich wegzuorganisieren (machen Männer, die pflegen, übrigens auch so, sehr vernünftig). Ein ambulanter Pflegedienst kommt ja bereits, was geht mit „Essen auf Rädern“ und Haushaltshilfe? Unter bestimmten Umständen kann man auch den monatlichen Entlastungsbetrag von 125 Euro für eine Haushaltshilfe verwenden. Oder sie nutzen den, damit Ihre Mutter Gesellschaft hat oder vor die Tür kommt. Man kann den Entlastungsbetrag auch etwas ansparen und später verbraten.

    Alles Gute Ihnen und Ihrer Mutter.

    • Danke sehr. Es geht ihr sehr schlecht und sie weiß es. Ich habe alles mit ihr abgesprochen, was ich unternehme.
      Finanziell geht das schon in Ordnung. Und wir beide sind in einem Stadium, in dem Geld egal ist. Allerdings muss es vorhanden sein, das stimmt schon. Heute ist A. eingetroffen, eine nette, erfahrene Frau aus Polen. Seither ist mir wohler, und meine Mutter mag sie.
      Dass das ganze ein Dschungel ist von Hilfsmittelanträgen und Krankenkassenwirrwar steht auf einem anderen Blatt. Ich wünsche mit Klarheit und Einfachheit der Organisation, und kein Marathon für Angehörige.

      • Och, die Beihilfe kann das noch toppen. Da dürfen Sie nämlich immer wieder aufs Neue das anteilige Pflegegeld für die häusliche Pflege durch Angehörige beantragen. Wegen Corona brauchen die jetzt bei der Bearbeitung besonders lange, acht Wochen Wartezeit sind da gar nichts, die Beihilfe zahlt aber den größeren Anteil des Geldes. Ganz super für all die Berufstätigen, die wegen der Pflege von Angehörigen ihre Arbeitszeit reduzieren mussten.

        Wenn jetzt auch noch eine Pflegekraft im Haus ist, wird hoffentlich für Sie und Ihre Mutter vieles einfacher.

        Von den monatlich 40 Euro für Pflegehilfsmittel, die Ihrer Mutter zustehen, können Sie sich übrigens auch die Kosten für Einwegmasken erstatten lassen.

      • Danke. Ich glaube, die überschreiten wir schnell. Die DAK sollte liefern, mit Antrag und allerlei verwirrenden Abläufen, bei DM kaufen wir dann.

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