Corona eins

Ein bißchen kommt es mir zur Zeit vor wie zu Zeiten des Mauerfalls. Als damals die ganzen Volksbewegungen im Ostblock waren, hat kaum einer dran gedacht, dass das in einem Zusammenbruch der Systeme enden würde. Ja, ich weiß schon, Ronald Reagan. Aber sonst: uns jungen Leuten war das bestenfalls egal. Wir kannten niemanden von dort und wollten auch nicht da hin. Bis auf meinen Vetter W., aber das gehört jetzt nicht hierher.
Und plötzlich kippte alles und nichts galt mehr. Heute steht der Mauerfall im Geschichtsbuch.
So die Seuche jetzt. Als Biologin interessiere ich mich schon für Krankheitserreger, für Übertragungswege und Fehlwirte. So verfolge ich die Ausbreitung des Erregers vom Stamme Corona mit Interesse. Bedeutsam, dass alles von einem Markt in Wuhan ausgegangen ist. Wer ein Mal über einen Markt in China gegangen ist, weiß, dass dort alles möglich ist, alles. Und wer danach auf einer chinesischen Toilette war, ahnt Fürchterliches.
Und dass das Virus von seltsamen Tiere auf den Menschen übersprang, vermutlich von einer Schlange names Krait und vielleicht auch von einer Fledermaus, wundert einen dann nicht mehr.
Nun, ich habe alles aus wohltuender Entfernung betrachtet.
Und irgendwie war das Virus plötzlich hier. Ach, sieh mal an.
Und plötzlich ging es schnell. Eigentlich weiß ich, was exponentielles Wachstum ist. Aber wie es sich anfühlt, wusste ich nicht.
Verdopplung, von Tag zu Tag. Und es kommt näher. Plötzlich gibt man sich nicht mehr die Hand, dreht sich ab, wenn einer hustet, und fühlt ein bißchen Schmerzen im Hals. Kein Husten, also kein Corona. Und dabei ist es so ein hübsches Virus.
Und von einer Stunde auf die andere ist es im Alltag. Menschen kaufen merkwürdige Sachen, reden miteinander über’s Händewaschen und fassen sich nicht mehr ins Gesicht. Die Schulkinder nehmen das alles sehr ernst. Und sind verwirrt, wenn die Lehrerin auf einmal sagt, dass sie das auch nicht wüsste.
Und gestern Vormittag dann das Gerücht, dass die Schulen schließen, alle im Bundesland, alle in Deutschland. Am Abend ist es sicher, alle sind zu. Betreuung ist in besonderen Fällen zugesichert, das Kollegium hat Dienstpflicht. Die Ministerin sagt das nochmals ganz genau. Wohl ist ihr nicht dabei. Wie soll das aussehen? Das mündliche Abitur steht an.
Wenn die Gespenster überall sind, hilft auch lautes Pfeifen nicht.
Die Sorge um die alten gebrechlichen Angehörigen, um die Nachbarn, ist groß.
Keiner hat es je erlebt. Geschichten aus Pest- und Cholerazeiten fallen einem wieder ein. Und was die Angst mit Menschen macht, wie schnell der Lack der Zivilisation von ihnen abfällt.
So habe ich mir vorgenommen, jeden Tag hier zu schreiben, was geschehen ist. Für später, vielleicht. Damit ich mich erinnere, wie alles gewesen ist, als die Seuche kam. Und ich wünsche mir, dass ich irgendwann zurück blicken kann auf außerordentliche Zeiten, in denen Menschen gelernt haben, worauf es ankommt, dass sie zusammen halten und sich die Ohren zuhalten, wenn schlimme Geschichten die Runde machen. Ja, das Leben ist gefährlich, und es ist endlich. Und doch wünsche ich mir, dass alle, die mir am Herzen liegen, weiterleben dürfen.